Steven Geil: Die Raute. Studien zu einer Philosophie geometrischer Formen

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Am 11. Januar 1817 ereignet sich im größten Postamt von Königsberg folgender Zwischenfall: Aus ungeklärtem Anlass sperrt sich der Postmeister Hans Wilhelm Krause nach der ordentlichen abendlichen Schließung unbemerkt und allein in seiner Dienststelle ein. Als er am nächsten Tag vollkommen erschöpft und nicht ansprechbar von seinen Kollegen gefunden wird, bietet sich ihnen ein unglaubliches Bild. Krause hatte in der Nacht in der geräumigen Schalterhalle des Amtes alle vorfindbaren Gegenstände aus sämtlichen Räumen – von eingegangenen Paketsendungen, Briefmarken, Briefkuverts bis zu Stempel, Peitsche und Stuhl – nach einem für das bloße Auge zunächst nicht nachvollziehbaren Muster geordnet. Eine eigens von einem Kartografen angefertigte Inventur dieses Ereignisses förderte eine schier unfassbare Feststellung ans Tageslicht. Das vermeintliche Chaos Hans Wilhelm Krauses hatte System. Zeichnete man die Wege der nach und nach gründlichst im Raum verteilten Dinge nach, so musste man feststellen, dass, egal von welchem Objekt man ausging, sich alle Linien in eindeutiger Parallelität und Winkelgröße exakt zu einer Form verbinden ließen: zur Raute.

Diese ungewöhnliche Anekdote des Preußischen Postdienstes zu Beginn des 19. Jahrhunderts fand bereits Erwähnung in psychiatrischen und kartografischen Schriften der nachfolgenden Jahrzehnte; und selbst Sigmund Freud bekundete um 1900 (wenn auch nur in einer Fußnote) Kenntnis dieses Vorfalls.

In Steven Geils Die Raute steht das nächtliche Handeln Hans Wilhelm Krauses (der Jahre später der ersten nachweisbar durch einen Brief übertragenen Syphiliserkrankung zum Opfer fallen sollte) am Anfang einer ungewöhnlichen Analyse formalen Organisationsdenkens. Über die Jahrhunderte hinweg verfolgt Geil rautische Muster und ein ‚rhombisches Denken’ (rhombic thinking), das sich in astronomischen Figuren, in den Projekten Leonardo da Vincis, in sakralen Liturgien der spanischen Inquisition, in medizinischen Befunden des Galvanismus bis hin zur modernen Neurowissenschaft, wie auch in Formationen des postindustriellen Finanzmarktes oder des digitalen Börsenhandels wiederfinden lässt. Geil entdeckt einen gewissen ‚Rautionalismus’ und eine ‚Rautionalität’ (Begriffe im Original auf Deutsch), die um 1800 unbemerkt, aber umso verstärkter in gesellschaftlichen Milieus wie Fabriken, Kasernen, Schulen, Krankenhäusern, Freizeitparks, Gefängnissen oder Universitäten implementiert werden. Fallbeispiel ist hier die Universität Heidelberg, an der Geil lange Zeit forschte und welche ihn zum zentralen deutschen Begriff der ‚Rautionalität’ inspirierte.

Erscheint die Causa Hans Wilhelm Krause zunächst wie eine einzelne psychotische Störung, so wird nach Geil das Vorgehen des ‚Rauten-Legens’ (rhombic) von nun an eine hegemoniale institutionelle Praxis, die sich durch alle sozialen, ökonomischen oder technischen Gefüge hindurchzieht.

Mit Die Raute legt Steven Geil den ersten wichtigen Band seiner groß angelegten ‚Philosophie geometrischer Formen’ vor. Es ist zweifellos verwunderlich, dass ein Autor wie Geil noch immer international größtenteils nur im Schatten französischer Philosophen und Phänomenologen wie Michel Foucault, Jules Broullie, Roland Barthes oder Maurice Merleau-Ponty, aber auch fern der Reputation eines Logikers wie Charles Sanders Peirce rezipiert wird. Möglicherweise, so eine leise Vermutung, sind seine entlarvenden Thesen vom unweigerlichen Zusammenhang einer wissenschaftlichen Selbstverwaltung und einer bürokratischen Wissenschaft für viele Zeitgenossen, die sich innerhalb der institutionalisierten Gedankenarbeit bewegen, weiterhin zu unbequem. Doch auch heute sind Geils Diagnosen von unbestreitbarer Brisanz und von dringlichster Bedeutung für eine Hinterfragung gesellschaftlicher Erkenntnisproduktion. Die Wissenschaft der Institutionen kann demnach mit Geil auf allen Ebenen als ein beständiges Anordnen geometrischer Formen verstanden werden – ein Ordnungsprozess, der zumeist fern der wissenschaftlichen Wahrheitssuche vielmehr als ‚antipragmatische Mathematik’ beschrieben werden muss.  Das letzte Kapitel  ‚Ent-Rautung’ ist folglich ein klares, zeitgenössisches Plädoyer für die Austreibung eines rhombischen Vernunftdenkens aus den Wissenschaften wie auch aus ihrer Verwaltung.

Erstausgabe 1971 | Neuauflage im Erscheinen 2022.

Aus dem Englischen von Martin Martin Schlesinger.